Deutsche: „Volk ohne Heimat
Niemand beäugt die Deutschen kritischer als die Deutschen. Ein Volk ist sich unheimlich. Die kritische Distanz ist angesichts der Geschichte nachvollziehbar. Gleichwohl wünscht man den Deutschen zu dreissig Jahren Mauerfall etwas mehr Gelassenheit. Die jüngsten Debatten sind schriller und verkrampfter, als sie sein müssten. Das Land tut sich schwer mit der Vervielfältigung des Parteien- und Meinungsspektrums. Vor allem der Zuwachs von rechts löst Ängste aus, wird aber auch politisch hysterisiert von Parteien, die lieber den Gegner anschwärzen, als an der Qualität ihrer eigenen Programme zu arbeiten.
Die Folge ist eine Inflation des Nazi-Vorwurfs. Die angeschlagene Linke, vor allem die darniederliegende SPD, bewältigt den Stress ihres Niedergangs mit anschwellender Aggressivität gegen alles, was rechts der Mitte unterwegs ist. Leider spielen die Medien, mehrheitlich links, mit auf der Klaviatur der sterilen Empörung. Zielscheibe sind längst nicht mehr nur die Abgeordneten der rechtsbürgerlichen AfD. Mittlerweile trifft die Hitler-Keule auch unbescholtene Ex-Minister wie Thomas de Maizière, einen braven Gefolgsmann der Kanzlerin, die den Aufstieg der Rechten ermöglichte, indem sie ihre CDU zu stark nach links verschob.
Solange sie aneinander vorbeireden, bleiben die Deutschen ein Volk ohne Heimat: Im Osten wollen sie den Nationalstaat zurück, den es nicht mehr gibt. Im Westen zweifeln sie am Vaterlandsersatz EU, der den Nationalstaat hätte überwinden sollen. Und kein Politiker ist in Sicht, der willens und imstande wäre, den Krampf zu lösen.
Die faszinierende Aufgabe wird es sein, den nationalen Freiheitsdrang der Ostdeutschen ins europäische Ersatzvaterland der Westdeutschen einzuschmelzen. Es geht um Nuancen, nicht um ein Entweder-oder. Eine neue Balance ist gesucht. Wie viel EU ist sinnvoll, wie viel nationale Eigenverantwortung darf es sein? Die Deutschen können sich der Debatte stressfrei stellen. Das Ergebnis wird ein besseres Deutschland sein. Und eine bessere EU.“ (Roger Köppel in Weltwoche 45/2019, 6.11.2019)